Raphael und der Sternenstaub


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Raphael blinzelte. Die Welt unter ihm verfärbte sich rosa. Das Rosa floss in das strahlende Blau des Himmels und die untergehende Sonne warf tiefe Schatten auf die Wiesen und Felder. Die Berge ragten wie beschützende Riesen in die Höhe. Der kleine Stern liebte diese Tageszeit, die in ihrer Schönheit nicht zu überbieten war. Einzigartige Momente, in denen alles still zu stehen schien. Der Tag war bereits vorüber, doch die Nacht hatte noch nicht begonnen. Es war still. Mucksmäuschenstill. Selbst die großen Sterne im Himmel, die ansonsten immer etwas zu plaudern hatten, schwiegen. Umso lauter war plötzlich das herzzerreißende Weinen eines Kindes zu hören. Raphael spitzte neugierig die Ohren. Was war da bloß los?

 

 

 

Von einer inneren Unruhe erfasst, blickte der kleine Stern hinunter auf die Erde. Er ließ seinen Blick schweifen, über die Berge und Täler. Während er dem Schluchzen folgte, suchte er die Städte und Dörfer ab, die Straßen und auch die Gärten der Häuser. Er blickte in jedes einzelne Fenster hinein, bis er endlich das traurige Kind fand. Lea! Zusammengekauert saß das kleine Mädchen in einer Nische hinter ihrem Bett und presste ganz verzweifelt einen dicken Teddybären fest an ihre Brust. Riesige Krokodilstränen kullerten über ihre Wangen und selbst aus dieser großen Entfernung konnte Raphael gut erkennen, dass das Fell am Kopf des Kuscheltieres bereits ganz nass geweint war.

 

 

 

„Arme Lea“, flüsterte Raphael leise. Es fiel ihm immer schwer, Kinder weinen zu sehen. Doch Lea, die wie ein kleines Häufchen Elend, mit bibbernden Lippen und nassem Gesicht auf dem Fußboden saß, zerriss ihm nahezu das Herz in seiner Sternenbrust. Wenn er bloß wüsste, was er tun sollte, um das unglückliche Menschenkind zu trösten? Aber er hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung, warum Lea so schrecklich traurig war.

 

 

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Kinderzimmer. Raphael beobachtete neugierig, wie Leas Mutter das Zimmer betrat. In der Hand hielt sie eine große Tasse, in der sich eine dampfende Flüssigkeit befand. Der kleine Stern schnupperte. Das Zimmer roch plötzlich nach … ja, nach was? Tee? Nein! Raphael konzentrierte sich und schnüffelte erneut. Das war kein Tee, das schloss er sowieso aus, weil Kinder eh nicht so gerne Tee tranken. Es duftete viel mehr nach …

 

 

 

…nach heißer Schokolade! „Mmmh, lecker“, dachte sich Raphael und spürte, wie sich prompt das Wasser in seinem Mund sammelte. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Jetzt würde sicherlich auch Lea gleich aufhören zu weinen, denn, das wusste der kleine Stern schon von vielen anderen Kindern, heiße Schokolade trocknete Tränchen. Kleine und große – zumeist rasch und äußerst effektiv. Doch! … dieses Mal schien es nicht zu funktionieren. Im Gegenteil! Raphael zuckte erschrocken zusammen als er Leas Reaktion vernahm und sein Himmelskörper, ehrlich, sein kleiner leuchtender Himmelskörper, blinkte vor Schreck so heftig auf, dass ihn selbst die großen Sterne, die ihn ja sonst nicht sehr viel beachteten, für einen kurzen Moment neugierig musterten.

 

 

 

„Geh weeeeeg!!!“, schrie das Kind und warf ihren Teddy in Richtung ihrer Mutter. Nur knapp verfehlte sie die Tasse. „Ich will keinen Kakao! Ich will nur Mia!“

 

 

 

Kopfschüttelnd brachte die Mutter die Tasse zunächst auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster in Sicherheit, bevor sie sich dann wieder zu ihrer Tochter umdrehte. Raphael nutzte den Moment, um sich die Mutter von Lea einmal näher anzusehen. Auch sie schien etwas traurig zu sein und sie sah außerdem so aus, als wüsste sie nicht mehr weiter.

 

 

 

„Ich weiß“, murmelte die Mutter und bückte sich, um den Teddybären aufzuheben. Behutsam strich sie das Fell des Kuscheltiers glatt und reichte es Lea. Widerwillig nahm diese es entgegen, nur um den Bären dann wieder fest an sich zu pressen. „Aber Mia ist nun mal weg, und wir können nichts dagegen tun“, fügte die Frau seufzend hinzu und setzte sich auf das mit der rosa Blümchenbettwäsche bezogene Bett ihrer Tochter.

 

 

 

„Ich will aber nicht, dass Mia weeeeeeeeeeg ist“, schrie Lea so laut, dass selbst Raphael oben am Himmel, sich reflexartig die Ohren zu halten musste. Die Blicke der anderen ignorierte er, weil er ja wusste, dass die Großen oben, die Kinder da unten auf der Erde nicht so gut hören konnten, wie er. „Ich will, will, will das nicht! Ich will MIA“, dröhnte es in seinen Ohren.

 

 

 

Mia? Wer war denn bitte Mia? Neugierig hörte Raphael hin. War dieses Mädchen vielleicht der Grund, warum Lea so traurig war? Mia war weg? Wo steckte sie denn? Wenn er jetzt genau hinhörte, könnte er ja vielleicht vom Himmel aus helfen und nach Mia suchen. Von hier oben hatte er einen besonders guten Blick und im Suchen war er ja einsame Spitze – beinahe hervorragend. Lea hatte er ja schließlich auch gefunden. Okay, er schmunzelte kurz, die war natürlich auch nicht zu überhören gewesen.

 

 

 

„Du wirst neue Freunde finden“, seufzte die Mutter unten auf der Erde und Raphael runzelte die Stirn. Was war das denn für eine Aussage?

 

 

 

„Ich will aber keine neue Freundin“, erwiderte Lea und vergrub ihr Gesicht im Fell des Teddybären. „Ich will nur meine Mia“, schluchzte sie leise in das Ohr des Kuscheltiers.

 

 

 

„Das geht aber nicht. Die Koffer sind gepackt und der Möbelwagen war auch schon da.“

 

 

 

„Aber WARUM denn?“ Jetzt weinte Lea wieder bitterlich.

 

 

 

„Lea bitte, ich habe es dir doch schon tausend Mal erklärt“, meinte die Mutter nun leicht gereizt.

 

 

 

Warum tat denn die Mutter nichts gegen den Kummer ihrer Tochter? Verärgert blickte Raphael nach unten. Sie musste doch irgendwas tun. Irgendetwas! Stattdessen hob sie bloß ihr Kind aus der Ecke und legte es ins Bett. Zwar deckte sie Lea zu, gab ihr auch einen Kuss auf die Stirn, doch dann verließ sie ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Einfach so. Und Lea weinte im Mondschein leise und verzweifelt vor sich hin.

 

 

 

Und jetzt weinte Raphael tatsächlich mit. Egal, was die großen Sterne von ihm denken sollten. Das war ihm in diesem Augenblick auch vollkommen einerlei. Die Welt dort unten schien so ungerecht zu sein. Warum passierten Dinge, die man unter keinen Umständen wollte? Es sollten doch lieber die schönen Sachen geschehen. Alle Kinder auf der Welt sollten lachen, sie sollten rumtoben und täglich Geburtstage feiern und sich mit ihren Freunden freuen! Ja, sie sollten einfach immer glücklich sein dürfen – DAS wäre gerecht!

 

 

 

Er war so in Gedanken, dass er das Gespräch der Eltern im Wohnzimmer nur bruchstückhaft mit anhörte. Die Mutter sagte gerade zum Vater, dass Lea Mia in wenigen Tagen vergessen habe und dass alles sicher nur halb so schlimm wäre. So wären Kinder eben und Lea wäre da sicherlich keine Ausnahme.

 

 

 

Was sollte denn das? Der kleine Stern schnaubte wütend aus. Halloooo?Von einer Mama erwartete er gewiss mehr Einfühlungsvermögen. Er erwartete, dass sie etwas gegen den Schmerz ihrer Tochter tat. Sie sollte gefälligst Mias Mutter anrufen und diesen ganzen blöden Umzug verhindern. Packen und woanders hingehen – was für eine Schnapsidee! Nein! Jetzt war Leas Mutter gefragt! Ihr Kind war schließlich traurig, TRAURIG! und DAS! konnte eine Mutter doch nicht einfach so akzeptieren.

 

 

 

Raphael war so in Rage, dass er viele kleine, von nahem betrachtet wütend rot funkelnde Fleckchen überall im Gesicht bekam. Weil er sich so schrecklich aufregte, über die Ungerechtigkeit in dieser Welt und über die Unfähigkeit mancher Mütter!

 

 

 

Eine dicke Wolke, die sich gerade in Raphaels Nähe befand, sah ihn ganz merkwürdig an. „Was ist denn mit dir los?“, sprach sie mit ernster Stimme. „Dein Sternengesicht ist ja ganz rot. Fühlst du dich vielleicht nicht wohl?“

 

 

 

„Nein! Es ist nur…weil … weißt du … stell dir vor…“ Raphael biss sich auf die Unterlippe und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um der Wolke zu erklären, was gerade in ihm vorging. Und dann, urplötzlich sprudelte alles aus ihm heraus. Er erzählte der Wolke, was er soeben gesehen und gehört hatte, warum Lea so traurig war und wie ungerecht das doch alles war. „…. Und jetzt sagt die Mutter, Lea soll ihre Freundin einfach vergessen. Das ist doch … einfach unglaublich, findest du nicht?“

 

 

 

Die Wolke, die Raphael lange und geduldig zugehört hatte, seufzte. „Aber nein, Raphael, da hast du etwas falsch verstanden. Leasoll doch ihre Freundin nicht vergessen. Sicher kann sie Mia in den Ferien besuchen, oder sie können miteinander telefonieren. Und falls das auch nicht gehen sollte, so kann ich dir Eines versichern: Wahre Freunde bleiben für immer in den Herzen der Menschen, und sie leben dort in den Erinnerungen weiter.“

 

 

 

Die Wolke rückte ein Stück näher an den kleinen Stern heran, und tupfte behutsam eine Träne von seiner Wange. „Am Anfang will man das nicht glauben, ich weiß. Man kann es sich gar nicht vorstellen. Aber bald schon ist Gras über den Schmerz und die Enttäuschung gewachsen, und dann erkennt man auch, dass das Leben noch viele weitere schöne Überraschungen für einen bereithält. Nach einer gewissen Zeit ist man dann soweit, dass man sein Herz und sein Wesen Stück für Stück dem Neuen öffnet. Denn jedes Ende, ist zugleich auch der Anfang von etwas Neuem und das ist gut so.“

 

 

 

Raphael schaute die Wolke mit großen Augen an. So ganz genau verstand er ja nicht, was sie da sprach. Doch ihre tiefe, freundliche Stimme wirkte beruhigend auf ihn und ja, ein klein wenig tröstete sie ihn auch. Dennoch fragte er zaghaft nach. „Bist du sicher?“

 

 

 

„Ganz sicher.“, bestätigte die Wolke mit einem Nicken. „In ein paar Tagen, und nach ebenso vielen Nächten, wird Lea wieder das glückliche Kind sein, das sie gestern noch war.“

 

 

 

Raphael schüttelte den Kopf. „Das ist doch wirklich blöd. Wenn die Menschen erst unglücklich sein müssen, um hinterher wieder glücklich sein zu dürfen. Anstatt einfach glücklich zu bleiben? Was soll das denn bitte für einen Sinn haben?“

 

 

 

Die Wolke seufzte. „Das Leben ändert sich“, versuchte sie dem kleinen Stern zu erklären. „Raphael. Jeder Mensch findet sein Glück woanders, der eine da, der andere dort. Und dann kommt es eben vor, dass sich die Wege, die man bisher gemeinsam gegangen ist, trennen.“

 

 

 

„Aha“, murrte der Stern. „Du hast ja irgendwie recht, aber ich glaube nicht, dass ich das gut finde.“

 

 

 

„Wir werden sehen“, antwortete die Wolke lächelnd und stupste Raphael leicht an. „Ich bin davon überzeugt, dass es der kleinen Lea bald wieder gut gehen wird, weil es Menschen um sie herum gibt, die ihr die Kraft geben werden, die traurigen und schweren Stunden des Abschieds zu überstehen. Lea ist doch nicht alleine. Sie hat ihre Eltern, bestimmt auch noch andere Freunde. Und sie hat sogar ganz großes Glück. Sie hat nämlich noch etwas gaaanz besonderes.“, flüsterte die Wolke.

 

 

 

„Was denn?“, fragte Raphael leise nach und wunderte sich, warum die Wolke plötzlich so geheimnisvoll tat.

 

 

 

Die Wolke rückte noch näher und umflauschte ihn. Ganz leise sprach sie die nächsten Worte in Raphaels Ohr. „Sie hat einen kleinen Stern, hier oben am Himmelszelt, der mit ihr fühlt und ihr Leid teilt. Und wie ich von einer Wolkenfreundin gehört habe, soll das ein gaaanz wundervoller Stern sein. Ein Stern, der in die Herzen der Kinder blicken kann.“

 

 

 

Sie zwinkerte ihm zu. „Ja, Raphael, DU, du kannst dafür sorgen, dass Lea sich immer wieder an ihre gute Freundin erinnern und sie nicht vergessen wird. Und sie wird dann, in wenigen Tagen, vielleicht auch erst in ein paar Wochen, nicht mehr traurig sein, sondern sich an den schönen Erinnerungen erfreuen. Hilf ihr dabei …“

 

 

 

Raphael dachte lange darüber nach, was die Wolke ihm gesagt hatte, bevor sie schließlich weitergezogen war. Sie hatte ihm zwar den Sinn von Abschied und Neubeginn erklärt und ihm auch gesagt, er könne Lea helfen, Mia nicht zu vergessen und somit weniger traurig zu sein. Aber etwas ganz Entscheidendes hatte sie vergessen, nämlich das Wichtigste überhaupt … er wusste immer noch nicht, was genau er von hier oben anstellen könnte, um Lea zu helfen.

 

 

 

Ein paar Stunden später blickte er dann wieder hinunter zur Erde. Lea war inzwischen eingeschlafen. Ihren Teddy hielt sie fest im Arm. Ihr tränennasses Gesicht war inzwischen getrocknet. Doch traurig sah sie immer noch aus.

 

 

 

Da öffnete sich erneut die Tür. Raphael beobachtete, wie die Mutter leise ins Zimmer schlich, behutsam über den Kopf ihres Kindes strich und … Nanu, was machte sie denn jetzt? Der kleine Stern blinzelte und musste sich mächtig konzentrieren, weil es im Zimmer schon sehr dunkel war. Legte sie dort tatsächlich ein Foto unter den Rand des Kopfkissens? Ja! Raphael sah genauer hin. Was war auf dem Foto? War das Lea? Saß sie da mit einem anderen Kind im Sandkasten, und beide Kinder winkten fröhlich lachend in die Kamera? Oh ja, das war wirklich ein schönes Bild! Ein Bild von Lea und ihrer besten Freundin Mia.

 

 

 

Und plötzlich wusste Raphael, was er tun konnte. Er wartete, bis die Mutter wieder gegangen war. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und brach vorsichtig ein Stück von seiner größten Zacke ab. Dabei presste er seine Augen und auch den Mund ganz fest zusammen, bis er erleichtert feststellte, dass es gar nicht weh tat. Zufrieden zerbröselte er das Stück Zacke, bis es in seinen Händen zu feinem Sternenstaub verfallen war.

 

 

 

Raphael öffnete seine kleine Faust und betrachtete wehmütig den Sternenstaub. Er schloss erneut die Augen, für einen winzigen Augenblick, so, als wünschte er sich etwas. Was das wohl war? Natürlich, er wünschte sich schöne Erinnerung für Lea. Dann beugte er sich weit nach vorne, holte tief Luft und pustete den kostbaren Inhalt von seiner Hand.

 

 

 

Aufgeregt hielt er den Atem an, sah zu, wie der Sternenstaub langsam auf die Erde nieder segelte, und als er sich endlich auf Lea und das Foto niederließ, schnappte Raphael erleichtert nach Luft. Überall funkelte es und glitzerte. Das Foto glänzte. Heller als er es sich erträumt hätte. Fast heller als er selber. Und genau in diesem perfekten Moment lächelte die kleine Lea im Schlaf.

 

 

 

Raphael war glücklich. Er hatte es geschafft! Mit seinem Sternstaub und dem Foto war es ihm gelungen, Lea schöne Erinnerungen in den Schlaf zu zaubern und er nahm sich fest vor, von nun an, die nächsten Tage, wenn nötig auch Wochen, Monate, Jahre, immer wieder bei Lea vorbeizuschauen, und ihr – falls nötig - ein bisschen Sternenstaub zu schenken. Bis sie den Schmerz vergessen und ohne ihn wieder glücklich sein konnte. Wie lange es auch dauern sollte …

 

 

 

*****

 

 

 

Wenn auch du einmal traurig bist, weil geliebte Menschen dich verlassen und neue Wege gehen. Wenn du wütend und enttäuscht bist, oder vielleicht einfach nur unglücklich. Dann schau nach oben! Blicke in den Himmel. Für einen winzigen Moment, oder auch etwas länger! Gib Raphael die Zeit, die er braucht, um ein Stück seiner Sternenzacke zu zerbröseln. Schau zu, wie die kleinen Sternchenkristalle auf unsere Welt nieder segeln, um dort zu glitzern und zu glänzen. Denk an die schöne Zeit zurück und lächele.

 

 

Um Raphael brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er hilft dir gerne und die Zacken an seinem kleinen Sternenkörper wachsen immer wieder nach. Versprochen!

 

 

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Raphael hat sein eigenes Gästebuch und er freut sich riesig, wenn du ihm etwas schreibst ;)

 

Raphaels Gästebuch


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