Das vergessene Haus des Tangolehrers

Es war ein wundervoller Tag. Die Sonne schien und die Blumen am Straßenrand leuchteten in allen erdenklichen Farben. Ela liebte das Rot der Mohnblumen, die um diese Jahreszeit die Hänge mit ihrer Blütenbracht bedeckten und sich im leichten Wind hin und her wogen. Ja, es war ein wundervoller Tag. Es roch nach Gras, nach frischem Grün, nach unendlicher Freiheit.

 

Langsam spazierte Ela den Waldweg entlang, vorbei an den Buchen, über die steinige Brücke, ein Stück am Ufer des Sees entlang und bog schließlich an der kleinen Kapelle mit der alten Marienfigur nach links in jenen Pfad ab, der sie zur Waldhütte ihres Großvaters führen sollte. Die aufkommenden Erinnerungen zauberten ihr ein Lächeln ins Gesicht. Sie sah sich als kleines Mädchen, auf den Schultern ihres Großvaters sitzend, der sich langsam mit ihr im Kreis drehte und ein Lied summte, an deren Melodie sie sich heute, nach all den Jahren, noch immer erinnern konnte. Als sei es gestern gewesen. Plötzlich fühlte Ela sich zu Hause. Ein Gefühl, dass sie anfangs mühevoll in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins verschoben hatte, um dem drohenden Heimweh zu entkommen. Seit dem spurlosen Verschwinden ihrer Mutter und dem tödlichen Autounfall ihres Vaters vor zwei Jahren, war sie nicht mehr hier gewesen, hatte sich im Schatten der anonymen Großstadt versteckt, weit weg von dem grausamen Schmerz, der durch ihren Körper floss, wie eine glühend heiße Flüssigkeit, wenn sie an ihre Familie dachte.

 

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal den Weg zur Waldhütte ihres Großvaters entlang gegangen war und mit jedem Schritt, mit dem sie sich dem Holzhaus näherte, klopfte ihr Herz mehr. Wie viele Jahre war es her? Neun, oder zehn? Warum war sie so lange nicht mehr hier gewesen? Nachdem ihre Mutter den Kontakt zu dem alten Mann abgebrochen hatte, war sie nie wieder an diesen Ort, an dem sie eine so schöne Kindheit verbracht hatte, zurückgekehrt. Und erst jetzt, nach all den Jahren, hatte sie durch einen Anwalt von der verlassenen Hütte erfahren. Sie dachte, sie sei nach dem Tod ihres Großvaters vor fünf Jahren längst verkauft und zu einem Wochenendpalast für reiche Leute geworden, die den Trubel der Stadt für ein paar Stunden vergessen und die Seelen in der Ruhe der Natur baumeln lassen wollten. Sie hatte sich geirrt.

 

Als sie um die Ecke bog, erkannte sie den kleinen Pfad, der sie zum Tor des eingezäunten Grundstücks führte und folgte ihm. Der Boden war weich und mit Moos bedeckt. Brombeerranken zerrten an ihrer Jeans und mühevoll drückte sie die Äste, die sie am steten Weiterkommen hinderten, zur Seite. Sie fluchte, als sie mit ihrer Hand in die Dornen einer Wildrose griff. Wie konnte etwas so schönes, so schmerzhaft sein? Es war wie mit den Erinnerungen. Glanzvoll und quälend zugleich. Brennend. Sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und presste es auf die blutigen Kratzer. Sie ging weiter. Die verwucherte rostige Eisentür, die zwischen den Resten der eingefallenen Mauer emporragte, hatte nur noch wenig mit ihrer Erinnerung gleich und stimmte sie ein wenig traurig. Ein ehemals schöner Ort hatte sich in einen verwahrlosten Flecken Erde verwandelt, den die Natur nun unaufhaltsam für sich zurück eroberte. Ela seufzte, öffnete quietschend die Tür und trat in den groß angelegten Garten.

 

Die Hütte stand auf einer Anhöhe und wirkte trotz des vermoderten Holzes und der verriegelten Fensterläden seltsam einladend. Unkraut zierte die mit dicken Steinen begrenzten Blumenbeete, überall wucherten Hecken mit spitzen Dornen und das Gras war so hoch gewachsen, dass Ela Mühe hatte, sich zur Terrasse durchzuschlagen.

 

Eine seltsame Leere erfüllte sie als sie die kaputte Schaukel an der großen Eiche erblickte, auf der sie als Kind gesessen und den melancholischen Klängen der Musik gelauscht hatte. Stundenlang. Ihr Großvater hatte gerne auf der kleinen Bank vor dem Haus gesessen und auf seinem Bandoneon gespielt. Für seine Enkeltochter, für seine Familie und am liebsten für sich selbst. Unerwartet stark blitzten Bilder in Ela auf. Sie sah ihre eng aneinander geschmiegten Eltern, die sich glanzvoll über den Steinboden bewegten, als würden ihre Körper ineinander verschmelzen. Daneben ihr Großvater, der jeden Schritt mit Argusaugen überwachte. Sie spürte ihren eigenen Herzschlag, der sich dem Takt der Musik anpasste, als übernähme er die Aufgabe, ihren Körper am Leben zu erhalten. Ela sog die frische Luft tief in ihre Lungen, um in die Gegenwart zurückzukehren. Egal wie schön es damals auch gewesen war, inzwischen war alles anders. Warum sie irgendwann nicht mehr hierher kamen, wusste sie nicht. Und später, als sie alt genug war um ihre Eltern danach zu fragen, fehlte ihr der Mut und die Beherztheit die Vergangenheit aufzuwühlen. Jetzt war es zu spät. Es gab niemanden mehr, der ihre Fragen beantworten konnte. Ihr Vater, der mit dem Auto, nicht weit der Stelle, an der sie sich gerade befand, von der regennassen Straße abkam und in eine tiefe Schlucht stürzte, hatte nicht nur die Vergangenheit unter den Trümmern des Autowracks begraben, sondern auch das Wissen über den Verbleib ihrer Mutter mit ins dunkle Grab genommen. An diesem tragischen Abend starb ihr Vater und ihre Mutter verschwand spurlos. Ela blieb alleine zurück.

 

Die Stufen knarzten, als sie die kleine Treppe am Rande der Terrasse hinaufstieg um zur Eingangstür zu gelangen. Hinter ihr knackte es im Unterholz. Unschlüssig blieb sie stehen und blickte zurück. Von diesem Moment an hatte sie das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Doch im Dickicht war niemand zu sehen. Sie verscheuchte die Gedanken und suchte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, den sie zuvor bei dem adretten Anwalt im Designersmoking abgeholt hatte. Das Metall fühlte sich plötzlich merkwürdig kalt und schwer in ihrer Hand an. ‚Es hängen zu viele Erinnerungen daran‘, versuchte sie sich einzureden und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ihre Entschlossenheit, in das Haus zu gehen, sich dort umzusehen und der Wille, sich der Vergangenheit zu stellen, den sie bis eben noch verspürt hatte, wich zunehmend und machte Platz für die Angst vor dem Ungewissen.

 

Das Schloss harkte und Ela musste an der Holztür rütteln, um letztlich mühevoll den Schlüssel darin drehen zu können. Ein sicheres Zeichen dafür, dass seit langer Zeit niemand mehr das Haus betreten hatte. Was ihr auch sofort bestätigt wurde, als ein muffiger Wall abgestandener Luft ihr entgegen schlug, der Ela dazu veranlasste einen Schritt zur Seite zu treten. Angeekelt spähte sie in den offenen Spalt. Staub wirbelte auf und funkelte in dem einfallenden Sonnenlicht wie kleine Diamanten.

 

Mit einer Mischung aus Beklemmung und Sehnsucht trat sie über die Schwelle. Sie bildete sich ein, jemand fasse ihr beruhigend, beinahe beschützend an die Schulter, auch wenn sie wusste, dass es nur ein Hirngespinst war, war sie dankbar für die unsichtbare Unterstützung. Im Eingangsbereich, der durch die offene Tür jetzt ausreichend hell erleuchtet war, prangte eine alte Vase, in der, umhüllt von zarten Spinnweben, verdorrte Rosen ihr Dasein tristeten. Wenngleich man es nicht mehr erkennen konnte, wusste Ela, dass die Blüten einst in leuchtendem Rot erstrahlten. Ihre Mutter liebte Rosen. Und wenn Ela die Augen schloss, erinnerte sie sich an den süßen Duft der Blumen, die jeden Samstag, wenn ihr Vater von der Arbeit nach Hause kam, auf dem Esszimmertisch standen.

 

Ela öffnete die Fensterläden und Licht durchströmte das Haus. Die Jahre hatten nicht nur im Garten, sondern auch im Innern des Hauses sichtbare Spuren hinterlassen. Die alten Möbel waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt, überall hingen Spinnweben von der Decke hinab und doch fühlte sich Ela seltsam wohl in ihrer Haut. Sie sah sich weiter um und entdeckte an der Wand des Esszimmers Schwarzweiß-Fotografien. Neugierig trat sie näher heran. Das Foto zeigte ihre Mutter mit ihrem Großvater beim Tangotanzen. Auch wenn sie das Gesicht der Frau nicht sah, erkannte sie sie sofort. Auf dem Foto trug sie ein weißes Spitzenkleid an, das ihren Körper leicht umhüllte. Ela besaß dieses Kleid noch immer. Sie hatte nur wenige Erinnerungsstücke behalten und sich von vielem getrennt, doch dieses Kleid hatte sie nicht weggeben können und es hing seit Jahren in ihrem kleinen Kleiderschrank. Vorsichtig, als könnte das Bild verschwinden, berührte Ela die Glasscheibe. Als Kind hatte sie es geliebt, ihrer Mutter beim Tanzen zuzusehen. Wenn sie sich der Musik und ihrem Tanzpartner voll und ganz hingab, konnte man ihr tief in die Seele blicken. Wenn sie tanzte, schien sie die Welt um sich herum zu vergessen. Wenn sie ehrlich zu sich selber war, hatte Ela ihre Mutter schon immer darum beneidet. Ela schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte das alles für lange Zeit vergessen. Jetzt sah sie die Bilder wieder klar und deutlich vor ihrem inneren Auge und hörte die einfühlsame Stimme ihres Großvaters, die ihr ins Ohr wisperte: ‚Tango ist die Luft, das Leben, die Liebe oder die Trauer.‘ Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr. ‚Tango ist alles‘.

 

Trotz der wohligen Temperaturen, fröstelte sie. Ela ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. In der Mitte stand der große Eichentisch, nichts außer Staub lag auf ihm, und wirkte bizarrer weise einsam. Etwas anderes zog sie jedoch in seinen Bann. In der Ecke stand ein alter Plattenspieler. Und sofort dachte Ela daran, wie sie als Kind die Nadel vorsichtig auf die Schallplatte setzte, und der Rhythmus des Tangos den Raum erfüllte. Ela lächelte glücklich. Sie wusste, wo sie suchen musste. Vorsichtig öffnete sie die oberste Schublade und zog einen Stapel Schallplatten heraus. Ihre Fingerspitzen fühlten sich taub an, als berührten sie einen Schatz und als hätten sie Angst etwas sehr wertvolles kaputt zu machen. Sie sah die Platten durch und wurde fündig. ‚Ballada para un loco‘ Das Lied war ihr stets in Erinnerung geblieben, auch wenn sie es seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Sie liebte sie, den Rhythmus und die Melancholie, die es auszusprechen vermochten und sie gekonnt mitrissen. Es war nicht nur abwechslungsreich, nein, es war impulsiv und voller Energie.

 

Ein wohliger Schauer lief über Elas Rücken, als die ersten bekannten Klänge das alte Haus erfüllten und die Vergangenheit in die Gegenwart katapultierte. Während sie der Musik lauschte, ging sie weiter und blieb vor der großen geheimen Tür stehen, die in ihrer Kindheit stets verschlossen war. Als Kind hatte sie es ohne es weiter zu hinterfragen akzeptiert. Doch jetzt kribbelte es in ihrem Körper vor reiner Neugierde. In das Holz der Tür waren Wörter eingelassen, deren Buchstaben sich nur schwer entziffern ließen. ¡El tango te espera! Elas Spanischkenntnisse reichten aus, um es zu übersetzen. !Der Tango erwartet dich! Und als ihr die Worte bewusst wurden, spürte sie bereits die eisige Gänsehaut auf ihrem Körper.

 

Als sie in das Zimmer trat, fühlte sie sich beinahe schwerelos. Die Musik draußen spielte die letzten Takte. Der Raum war dunkel, nur wenige Lichtstrahlen drangen durch die Fensterläden. Auf dem alten Schreibtisch ihres Großvaters lag eine Rose, die trotz der Dunkelheit und ihres Alters nicht an Farbe verloren zu haben schien. Daneben lag ein in Leder gebundenes Buch. Erwartungsvoll griff sie danach. Das Leder war abgegriffen und rau. Der Titel war kaum noch zu lesen. ‚Mein Tango‘. Ela spürte ihr Herz klopfen und hielt einen Moment inne, bevor sie das Buch aufschlug und anfing darin zu lesen.

 

 

Hörst du das Flüstern unserer Schritte?

 

Er erleuchtet unser Leben,

Tango

der Morgensonne gleich,

die am Himmel erstrahlt und sich ohne jeglichen Widerstand mit unserem Innersten vereint.

 

Das sind wir.

Dem Leben ergeben.

 

Er bereichert unser Herz,

Tango

dem Winde gleich,

der den Horizont erfasst und uns aufnimmt in das Sein.

 

Das sind wir.

Ohne Widerstand.

Dem Leben ergeben.

 

Er ist unser Leben,

Tango

der Umhüllung unserer Seelen gleich,

die uns behutsam trägt und uns gleiten lässt in eine Welt, die nur uns gehört.

 

Das sind wir.

In unserer Welt.

Ohne Widerstand.

Dem Leben ergeben.

 

Er nimmt unsere Hand,

umarmt unser Leben.

 

Bis die Welt um uns herum verschwimmt,

zu einem Ganzen wird und uns vereint.

Zwei Seelen werden zu einer.

 

Hörst du das Flüstern unserer Schritte?

Hörst du unser Atmen?

Spürst du die Liebe?

Fühlst du das Sein?

 

Das sind wir.

Vereint.

In unserer Welt.

Ohne Widerstand.

Dem Leben ergeben.

 

Tango

Er erfüllt.

 

 

Tränen der Rührung füllten ihre Augen und die Zeilen verschwammen, als sie erkannte, was sie da gerade in ihren Händen hielt. In diesem Buch hatte ihr Großvater seine Gedanken festgehalten, er hatte niedergeschrieben, was Tango für sein Leben bedeutete. Und die Zeilen trafen Ela mitten ins Herz. Plötzlich spürte sie die Lust zu tanzen, den inneren Drang sich zur Musik zu bewegen und den Wunsch abzutauchen, in die Welt, die ihr Großvater und ihre Mutter so sehr geliebt hatten. Sie blätterte weiter und las: ‚Es gibt zwei Geheimnisse ein großer Tangotänzer zu sein. Erstens: Du hast eine Lücke in dir, die du nicht ausgleichen kannst. Zweitens: Du stolperst glücklicherweise über den Tango und betrachtest ihn als etwas, mit dem du diese Lücke zu füllen versuchst.‘ Ela sog die Luft ein und schlug das Buch zu. Mit zitternden Fingern legte sie es wieder zurück auf den Arbeitstisch. Die Tränen der Rührung, die ihr noch vor wenigen Minuten die Sicht auf die Zeilen verschleiert hatten, waren jetzt richtigen Tränen gewichen. Die tiefe Einsamkeit, die ihr Großvater in diesem zusammenfassenden Satz erwähnt hatte kannte sie nur allzu gut. Und bisher hatte sie die Lücke, die der Verlust ihrer Eltern in ihre Seele gerissen hatte, mit Nichts zu füllen gewusst.

‚Tango ist die Umarmung mit einem Unbekannten‘, erklang eine Stimme in ihrem Kopf. Seltsam nah und doch so weit entfernt. Sie wusste, sie war allein, dennoch spürte sie wie jemand nach ihrer Hand griff und sie mit sich zog. Was immer gerade mit ihr geschah, sie konnte und wollte sich nicht dagegen wehren. Ela schloss die Augen und ließ es geschehen.

 

Sie wusste nicht, wie lange sie in Gedanken versunken auf dem Sofa in der Ecke gesessen hatte, doch als sie die Augen wieder aufschlug, war das Zimmer vom roten Licht der untergehenden Sonne erfüllt. Die Fenster waren weit geöffnet und der Wind wehte herein. Der sich hin und her wiegende leichte Stoff der Vorhänge ließ graue Schatten an den Wänden tanzen. Mit angehaltenem Atem lauschte Ela in die Stille. Nichts war zu hören, außer dem leisen Gezwitscher der Vögel, dass von draußen hereinschallte und das Krächzen eines Raben, der sich auf der Schaukel im Garten niedergelassen hatte, die Ela von hier aus sehen konnte. Ela stand auf und ging zum Fenster. Sie hörte das Lachen ihrer Mutter, die Stimme ihres Vaters, das Bandoneon, auf dem ihr Großvater spielte. Es war so real. So nah. Sie schloss das Fenster und rückte die Vorhänge zurecht. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, wollte die Rose berühren, ließ aber davon ab, als sie bemerkte, dass sie zu Staub zerfiel, wenn man sie nur ansehen wollte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren, doch die Umstände, dass sie sich wohl fühlte, der Strom funktionierte und sie in ihrer Tasche noch genügend Wasser, zwei Müsliriegel und sogar ein belegtes Brot, dass sie sich eigentlich als Zwischenmahlzeit eingepackt hatte, bei sich trug, überzeugte sie, noch nicht wieder aufzubrechen und stattdessen über Nacht zu bleiben. Sie wollte noch nicht gehen.

 

Stundenspäter erwachte Ela aus einem tiefen Schlaf. Ruckartig setzte sie sich auf und starrte in die Dunkelheit, überzeugt, dass jemand den Raum betreten hatte, ohne dass sie es gemerkt hatte und einen Moment lang setzte tatsächlich ihr Herz aus, bis sie den Lichtschalter fand und ein matter Schein das Zimmer erhellte. Erleichterung floss durch ihre Adern. Doch das Gefühl hielt nicht lange an. Merkwürdige Geräusche erfüllten das Haus. Hörte sie Schritte? Gleichmäßiges Schreiten über den Dielenboden im Obergeschoss? Das war doch verrückt. Ihre Fantasie spielte ihr sicher nur einen Streich. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, doch dann sah sie aus den Augenwinkeln, dass sich in der Ecke, in der das Bild ihrer Mutter hing, etwas bewegte. Elas Herz raste und Panik durchströmte ihren Körper. Ängstlich stand sie auf, trat näher, betrachtete es, bis sie schließlich erkannte, dass es sich bei dem, was sie erspäht hatte, nur um den Schatten eines Astes handelte, der sich draußen vor dem Fenster bewegte. Ein Donnergroll durchbohrte die Stille und ließ Ela zusammenzucken. Draußen tobte ein Sommergewitter. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

 

Ein eigentümliches Unbehagen begleitete Ela über die Treppe nach oben. Am Ende des Flurs klapperte ein Fensterladen im Wind. Regentropfen peitschten wild gegen die ungeschützte Scheibe und durch eine undichte Fuge im Rahmen tropfte stetig das Wasser auf den alten Dielenboden. Ela musste über sich selber schmunzeln, als sie bemerkte, dass die Natur ihr einen Streich gespielt hatte. Erleichtert atmete sie aus, öffnete das Fenster, zog den Fensterladen heran und verschloss die Verankerung. Erst als sie sich zum Gehen wandte, fiel ihr auf, dass die Tür, die in das damalige Zimmer ihrer Mutter führte, einen winzigen Spalt offen stand. Hatte sie den Mut es zu betreten? Sie öffnete die Tür. Als sie bewusst versuchte sich zu erinnern, erstand vor ihrem geistigen Auge das Bild einer wunderschönen Frau. Und damit kamen andere Erinnerungen. Sie liegt bäuchlings auf dem Boden, den Kopf in die Hände gestützt, und beobachtet die Füße ihrer Mutter, die sich im Gleichklang der Musik bewegten, als wären sie mit dem Klang verschmolzen. Sie gehen, sie kreuzen und schieben sich über das Parkett, als würden sie schweben. Wenn sie sich im Kreis drehen, um dann für einen stillen Augenblick an einer Stelle zu verharren, sah es besonders schön aus. Sie sieht nach oben, blickt in das Gesicht ihrer Mutter. Sie sieht ihre Freude am Tanz. Doch etwas Geheimnisvolles verbirgt sich hinter ihren grünen Augen. Als würde sie sie zu sich rufen.

Die Erinnerung brach ab, als ein Blitz das Zimmer erhellte. Es war beklemmend still im Raum, als sie eintrat. Das Zimmer war leer, nur ein spärliches Bett stand in der Ecke und ein kleiner Schreibtisch stand unter dem Fenster. Die Wände waren kahl. In der Mitte des Raumes, auf dem kargen Fußboden lag ein Weinglas. Der Wein war längst getrocknet. Daneben lag ein Brief. Ela ließ sich auf die Knie sinken und noch bevor sie anfing zu lesen, wusste sie, dass diese Zeilen ihr Leben für immer verändern würde.

 

 

Liebster Tom,

nach all den Jahren unserer Liebe, der gemeinsamen Zeit mit dir und Ela, bin ich zu dem Schluss gekommen, dich zu verlassen. Es ist der schwerste Schritt in meinem Leben. Zu glücklich war ich mit dir. Damals. Du warst der Mensch, der mich erfüllte, der Mann, der fähig war, die Lücke in meinem Leben zu füllen, die nach dem Verlust meiner Mutter in mir klaffte. Meine Mutter hat mich verlassen als ich noch ein Baby war. Irgendwo lebt sie, in der Ferne … und ich muss sie suchen.

Ich danke dir für den letzten Tanz. Hier, im Haus meines Vaters. Für einen Moment lang habe ich die Leidenschaft wieder gespürt, die uns so lange erfüllte. Für einen Tanz war ich dir wieder ganz nahe. Doch als die letzten Klänge der Tangos ertönten, spürte ich, dass es Zeit wird. Zeit wird zu gehen. Ich will tanzen, mit dir … und die Worte klingen in meinem Kopf: ‚Das Wichtigste ist es zu wissen, warum wir tanzen wollen. Wir tanzen die Einsamkeit in uns, die wir durch nichts kompensieren können. Diese Lücke, in deren Leere wir Bewegung bringen, ist der Tango.‘ Doch der Tango erfüllt mich nur für kurze Zeit. Und wenn ich alleine bin, fühle ich mich verloren. Ich muss gehen, muss meine Liebsten verlassen, um die Leere in mir für immer zu füllen.

Ich weiß, es tut weh. Es schmerzt. Und du musst wissen, wie schwer es mir fällt, euch zurück zu lassen. Doch bitte, bitte denke immer daran: Du hast mich zur glücklichsten Frau gemacht, die ich zu sein vermochte. Und Ela, das wundervolle Geschöpf unserer Liebe, war mein größter Segen. Ich hoffe, ihr könnt mir irgendwann verzeihen. Und ich wünsche mir, dass ihr es schafft, die Lücke, die ich hinterlasse, zu füllen, so wie ich die Leere in mir, dank euch, lange Zeit füllen konnte.

Liebster Tom, bringe Ela hierher zurück. Hierher, in das Haus ihres Großvater, meines geliebten Vaters. Lehre sie den Tango, so wie mein Vater es mir einst gelehrt hat. Erzähle ihr, dass ich zu viele Fehler gemacht habe und wie gerne ich ihn, nach all den Jahren des Schweigens, für all die schmerzlichen Worte, die ich damals in meinem Unwissen ausgesprochen habe, um Verzeihung beten würde. Doch dafür ist es längst zu spät. Ich habe das Gefühl, einen Teil wieder gut machen zu können, in dem ich ihm das zurückgebe, was ich ihm in den letzten Jahren seines Lebens genommen habe. Glückliches Lachen in seinem Garten, die schwungvollen Lieder auf seinem Bandoneon. Den Tanz. Die Leidenschaft des Lebens. Das versunkene Dasein, das ihm so wichtig war.

Ich muss mich auf den Weg machen. Und einmal mehr wird mir bewusst, dass der Weg das Ziel ist. Das Ziel, welches sich unendlich dehnt. Wie im Tango. Unendlichkeit … unendliche Perlenkette von Lichtblicken, die uns wie das Gehen im Tango flüchtige Momente der Glückseligkeit erspüren lässt.‘ Ela und du, ihr seid meine Perlen und meine Weggefährten. Doch die Sehnsucht nach dem festen Band des Lebens, hält mich gefangen und treibt mich von euch fort.

‚Im Leben muss man eben oft, wie beim Tango, auch mal zwei Schritte nach hinten machen, um dann einen nach vorne zu tun.‘ Habt Geduld mit mir. Ihr müsst mich nicht suchen, ich werde zu euch zurückkehren.

In Liebe

Deine Maria

 

Ela wollte nicht glauben, was sie da las, und tausend verschiedene Gedanken schossen ihr durch den Kopf, bis die Teile ineinander griffen und allmählich einen Sinn ergaben. Sie fühlte sich benommen. In ihren zittrigen Fingern hielt sie noch immer den Brief und starrte auf die Zeilen ihrer Mutter. Die Worte, die all die quälenden Fragen der letzten Jahre, mit einem explodierenden Schall des Wissens auflösten, hallten in Elas Kopf nach. Ihre Traurigkeit mischte sich mit einem kläglichen Hauch Hoffnung. Und wieder spürte sie die tröstende Hand auf ihrer Schulter. „Lehr mich den Tango“, flüsterte sie leise und gab sich in die Arme des Unbekannten. Leise Klänge zogen sie mit sich. Zum ersten Mal konnte sie sich richtig fallen lassen. Sie spürte die verlorene Nähe.

Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, bis sie die Stimme ihres Vaters dicht an ihrem Ohr hörte. „Unsere gemeinsam getanzten Schritte, kann uns keiner mehr nehmen.“ Wie wahr, dachte Ela und eine Träne sickerte aus dem Augenwickel und rann ihr über die Wange. Doch sie konnte noch nicht einmal die Hand heben, um sie wegzuwischen. Ela war traurig, traurig, ihren Vater, der, nachdem er den Brief gefunden hatte, aufgewühlt und verzweifelt – verlassen, auf dem Weg zu ihr war, verloren zu haben. Sie war betrübt, die letzten Jahre nicht mit ihrem Großvater gemeinsam erlebt zu haben. Die geschriebenen Worte ihrer Mutter, in der sie ihre Zerrissenheit und ihre unstillbare Traurigkeit beschrieb, riss sie mit. Doch zugleich sah Ela optimistisch in die Zukunft. Ihre Mutter würde zu ihr zurückkehren, irgendwann, das hatte sie versprochen, hier, in diesem Brief, und bis dahin … bis dahin hatte sie den Tango und wenn sie den Worten ihres Großvaters Glauben schenken durfte, war ‚der Tango eine Therapie, die die Seele befreit‘.

 

Ela verbrachte die restliche Nacht im Zimmer ihrer Mutter. Blätterte durch Fotoalben, die sie im Schreibtisch gefunden hatte. Und als die Sonne aufging, brach sie auf. Sie ging durch den Garten, vorbei an der Schaukel ihrer Kindheit, vorbei an den verwilderten Blumenbeeten. Sie ging durch die rostige Eisentür, doch noch bevor sie sie hinter sich zu zog, blickte sie zurück. Das vergessene Haus des Tangolehrers strahlte in der aufgehenden Morgensonne. Und in diesem Augenblick wusste Ela, dass es kein Abschied für immer war. Bald würde sie wiederkehren und im Garten das Lachen ihrer Mutter hören und den Klängen des Bandoneon lauschen. Sie würde die Augen schließen und Tango tanzen, mit ihm. Für ihn. Es würde weitergehen. Schritt für Schritt. Wie im Tango so auch im Leben.

 

 


Tangozitate, die in diesem Text verwendet werden:

 

»Der Weg ist das Ziel. Das Ziel, welches sich unendlich dehnt.

Wie im Tango. Unendlichkeit ... unendliche Perlenkette von Lichtblicken,

die uns wie das Gehen im Tango flüchtige Momente der Glückseligkeit

erspüren lässt.«

(Marie-Paule Renaud)

 

"Der Weg zum Tango, das Erlernen des Tanzens, ist eine Reise ins Innere -

am Ende steht die Begegnung mit sich selbst."

(Tarlo)

 

Im Leben muss man eben oft, wie beim Tango, auch mal zwei Schritte nach hinten machen, um dann einen nach vorne zu tun.

Daniel Goeudevert

 

Tango es una terapia que hace liberar el alma.

Der Tango ist eine Therapie, die die Seele befreit.

Ricardo Vidort

 

Der tanzende Körper ist ein Körper, der sich von sich trennt, um zu sich zu finden, der seine Form verlässt, um eine neue einzugehen, der einen Ort aufgibt, um einen anderen einzunehmen

Jean-Luc Nancy

 

Tango ist die Luft, das Leben, die Liebe oder die Trauer. Tango ist alles.

Carlos Matheos

 

Tango ist die erlaubte Umarmung mit einer/m Unbekannten.

Mundo Burgos

 

Lo importante es saber para qué queremos bailar. Bailamos una soledad que tenemos dentro de nosotros y no la podemos ocupar con nada. Ese vacío al que le ponemos movimiento es el tango.

Das Wichtigste ist es zu wissen, warum wir tanzen wollen. Wir tanzen die Einsamkeit in uns, die wir durch nichts kompensieren können. Diese Lücke, in deren Leere wir Bewegung bringen, ist der Tango.

Carlos Gavito

 

There are two secrets to being a great tango dancer. The first is having a hole in yourself that you cannot fill, and the second is the luck to fall upon tango as the thing you try to fill it with.

Es gibt zwei Geheimnisse ein großer Tangotänzer zu sein. Erstens: Du hast eine Lücke in Dir, die Du nicht ausgleichen kannst. Zweitens: Du stolperst glücklicherweise über den Tango und betrachtest ihn als etwas, mit dem Du diese Lücke zu füllen versuchst.

Jaimes Friedgen

 

When you dance tango, you must give everything. If you can't do that, don't dance.

Wenn Du Tango tanzt, dann musst Du alles geben, kannst Du es nicht, dann tanze nicht.

Ricardo Vidort

 

¡El tango te espera!

Der Tango wartet auf Dich!

Aníbal Troilo