ALISAR - Das Leben nach den Katastrophen


Anmerkung: Alisar ist eine der Hauptfiguren in den FFs "Remember" und "Vermisst". Die Tochter von Ilena, Zivas Cousine, hat in ihrer Kindheit viel durchgemacht. Sie überlebte sowohl die Tage in der Wüste, als auch die Gefangenschaft in der Münchener Kanalisation. Doch die Geschehnisse haben Spuren hinterlassen. Ist ein Kind in der Lage, ein glückliches Leben zu führen, nach all dem Leid und all den Grausamkeiten, die ihm wiederfahren sind? Alisar erzählt uns ihre Geschichte.



Es riecht nach Regen. Wieder einmal. Seit Tagen lässt sich die Sonne nicht blicken. Dichte, dunkle, riesige Wolken bedecken den Himmel. Nur wenige Strahlen finden hin und wieder den Weg durch das Grau des Himmels, lassen die Bäume kurz zu großen Schatten werden, bevor die triste Farbe schlechten Wetters die Welt wieder gefangen nimmt. Ich ziehe meinen Regenmantel enger um meinen Körper. Es fröstelt mich, obwohl das Thermometer die magische Grenze von zwanzig Grad überschritten hat. Dennoch. Ich sehne mich nach Wärme.

 

Ich erinnere mich an die Wärme in meinem Heimatland, an die Sonne Israels. Und ich erinnere mich an die Trockenheit. Ja, ich kann ihn immer noch spüren. Den schrecklichen Durst, den ich damals empfunden habe, als ich in der Wüste war. Alleingelassen, hilflos. Ich spüre die Sonne auf meiner Haut brennen und den Staub in meinen Lungen. Und doch habe ich Angst vor Wasser. Weiß, welche Gefahr es bedeutet, wie machtvoll es ist. Es entscheidet über Leben und Tod. Es stillt den Durst und nimmt dich doch gefangen.

 

Nachts, wenn ich von Träumen geplagt werde, schrecke ich auf. Höre die Wassermengen, spüre den Durst, rieche den Gestank der Kanalisation. Fühle die Hitze und die Kälte zugleich. Und Übelkeit steigt in mir auf. Doch ich kann nicht mehr weinen.  

 

Dicke Tropfen fallen vom Himmel, platschen auf den Asphalt und in die Pfützen. Ich bin aufgeregt, freue mich und verspüre gleichzeitig Angst. Nach all diesen Jahren kehre ich zurück. Und ich weiß nicht, was mich erwartet.

 

*****

 

Vor drei Jahren habe ich in der Dunkelheit meine Tasche gepackt. Ich habe einen Abschiedsbrief geschrieben und auf den Küchentisch gelegt. Ich ging. Lief über die Wiese hinter dem Haus, durch den Wald, bis zur Straße. Verließ die Welt, in der ich nicht glücklich sein konnte und nicht mehr leben wollte. Nicht leben konnte. Ich ging. Mit dem Wunsch, alles zu vergessen und irgendwo neu anzufangen. Alleine; ohne Menschen, die mich an die Vergangenheit erinnerten.

 

Und genau das taten sie. Die Menschen, die mich liebten, erinnerten mich an die Qualen meiner Kindheit. An die Schmerzen und an die Angst. Wenn ich ihnen in die Augen blickte, sah ich das Mitleid und die, nicht enden wollende Hilflosigkeit. Sie nahm alles gefangen. In mir blitzten Erinnerungen auf, immer und immer wieder. Statt die Gegenwart zu sehen, sah ich die Bilder längst vergangener Tage. Und sie waren so real. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich war hilflos.

 

Ich litt unter Schlaflosigkeit und Albträumen. Ich schlief keine Nacht mehr durch. Sicher, es gab auch eine Zeit, da ging es mir gut. Für ein paar Jahre war ich ein fröhliches Kind. Unbeschwert. Doch nur für kurze Zeit. Bis sie wiederkehrten. Die Träume, die Erinnerungen. Bis ich anfing, Fragen zu stellen und die Antworten mein Herz ein zweites Mal zerrissen.

 

Heute tut es mir leid, was ich in diesen Momenten meiner Mutter an den Kopf geworfen habe. Mit welcher Wucht ich sie zu Boden stampfte und ihre helfende Hand, die sie mir unaufhaltsam entgegenstreckte, ignorierte. Ihr die Schuld an allem zu geben, war falsch. Ich weiß. Doch damals war ich gefangen in meiner eigenen Welt. Und die Welt außerhalb meines Ichs war schlecht.

 

Am Anfang stand meine Mutter dem Geschehen hilflos gegenüber, war wie gefesselt und musste hilflos zusehen, wie ich meine Wut gegen meine Umwelt und gegen mich selbst richtete. Ihr Flehen und ihre Tränen interessierten mich nicht, die Gefühle anderer waren mir egal. Ich wollte überleben, leben.

 

Doch statt zu leben, starb ich. Ich vermied alles, was mich an die Vergangenheit erinnerte. Gedanken, Gefühle, Gespräche. Ich zog mich zurück. Niemand sollte mir mehr zu nahe kommen. Ich wurde still. Und einsam. Ich war allein, mit mir und meinen Träumen. Mit den Ängsten. Mit den Erinnerungen. Ich sah die Welt wie durch Watte. Therapien kratzten an der Oberfläche, doch sie halfen nicht. Oder waren sie es, die mich dazu bewegten, aufzubrechen? Dagegen anzukämpfen? Meine Koffer zu packen?

 

*****

 

War es Flucht? Oder war es Aufbruch in ein neues Leben? Diese Frage stellte ich mir, als ich damals am Rande der Wiese stand und ein letztes Mal zurückblickte. Ich kannte die Antwort nicht, aber ich wusste, ich musste gehen.

 

Wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke, sehe ich nicht mehr nur das Schlechte. Nein, ich bin meiner Mutter dankbar dafür, welch eine Stütze sie mir war, obwohl sie selber kämpfte. Mit sich, und mit ihren Ängsten. Ich erkenne, welche Kraft die Liebe hat. Wie stark der Wille ist zu überleben, für andere einzustehen, für das Leben zu kämpfen. Für sein eigenes, wie auch für das Leben der Anderen. Sich in Lebensgefahr zu begeben, um andere zu retten.

 

Sie haben mich gerettet, aus der Wüste und aus dem Wasser. Sie haben alles getan, um ein fremdes Leben zu bewahren. Mein Leben zu bewahren. Ich hatte nicht das Recht, es zu beenden. Ich war in der Pflicht, zu kämpfen. Für mich und auch für die anderen.

 

Doch ich musste den Weg alleine gehen. Ohne sie. Also packte ich meine Tasche und ging. Kehrte zurück zu den Orten, die mich im Schlaf quälten, besuchte die Wüste und die Stadt. Und ich erkannte, dass die Bilder in meinem Kopf Erinnerungen waren. Die Vergangenheit, die mich bisher gefangen hielt, verlor an Kraft. Die Gegenwart war friedlich. Ich nahm Hilfe an und arbeitete an mir. Hart und mit eisernem Willen. Bis heute. Und jetzt hat sie keine Macht mehr über mich. Ich weiß, ich kann die Erinnerungen nicht ablegen, sie werden immer ein Teil von mir bleiben. Und doch gibt es Wege, damit zu leben. Sie zu akzeptieren. Ich fand meinen Weg und Glück kehrte in mein Leben zurück.

 

*****

 

Ich drücke die Klingel und lausche in die Stille. Ich blicke über die Wiese zum Waldrand. Ich sehe die gleichen mächtigen Bäume wie vor drei Jahren, die das Dunkel dahinter verbergen wollten und versuchten, es von mir fern zu halten. Und ich sehe die Wiese. Meine Wiese. Sie ließ Gras über die Geschehnisse wachsen, verdeckte die Narben der Vergangenheit. Nach dem Winter kam der Frühling, er ließ die Blumen wachsen. Der Sommer strahlte in seinen schönsten Farben. Doch der Herbst ließ sie langsam wieder verblassen und der Winter, der mit aller Macht zurückkehrte, ließ sie sterben. Doch heute weiß ich, dass nach dem Winter der Frühling wiederkehrt.

 

Nach endlosen Sekunden höre ich die Schritte. Ich höre den Schlüssel, der sich im Schloss dreht und die Tür, die sich knarzend öffnet. Sie steht vor mir. So, wie ich es mir in meinen Träumen ausgemalt habe. Wie ich es mir sehnlichst gewünscht habe. Jede Nacht. Jede Stunde. Meine Mutter sieht mir in die Augen und ich, ich sehe nicht mehr die Vergangenheit, ich sehe sie. Ich bin zurück. Sie nimmt mich in die Arme, nimmt mich wortlos bei sich auf. Ich bin zu Hause.

 

Ich bin durch den Wald zurück und über die Wiese gelaufen. Und habe gelernt mit der Vergangenheit zu leben.